Der perfekte Roman

Ein weißes Blatt - unbeschrieben, die Finger reglos auf der Tastatur, sein war Kopf leer. 
Der Verlag hatte sein Exposé brillant gefunden, er selbst war der Meinung, dass die Idee genial war. Der komplette Roman lebte in seinem Kopf – und jetzt fand er die ersten Worte nicht! 
Peter öffnete den Browser. Dann recherchiere ich eben noch etwas. Viktor Oliva, ein Künstler des Jugendstils, sollte eine Nebenrolle im Roman spielen. Der Wikipedia-Eintrag war kurz. Sein Blick fiel auf das Bild neben dem Text: Der Absithtrinker. Es zeigte einen verzweifelten Mann, auf dessen Tisch eine grüne Frau saß. Leben fuhr in Peters Finger. Schnell fand er heraus, dass im 19. Jahrhundert Absinth das Getränk der Künstler und Schriftsteller war, welches zu ungeahnter Inspiration verhalf. Die grüne Fee erschien und hauchte ihnen Ideen ein. 
Vielleicht hilft mir die grüne Fee auch, überlegte er. Sein Geist verflüchtigte sich in Phantasien. Morgen würde er den Bestseller schreiben. Die Grüne Fee würde ihn inspirieren. Er sah sich auf Lesereisen, umringt von begeisterten Fans, auf Bühnen, wo ihm Preise verliehen wurden. 
  
In der Getränkeabteilung stand er schnell vor dem Spirituosenregal. Etwa zehn Meter lang fand man dort, was das Herz begehrt. Peters Blick glitt suchend über die Fächer. 
Kann ich Ihnen helfen?, fragte ein älterer Mann in der Mitarbeiteruniform des Supermarktes.
Führen Sie auch Absinth?
Absinth? Ja, sicher. Kommen Sie! 
Peter folgte Herrn Kalmus, der ihn ins hintere Drittel des Spirituosenregals führte. 
So, da sind wir. Jetzt ist die Frage, welche Güte Sie wünschen.
Welcher ist denn am besten?
Nun, das ist bei uns Absinthe Keller et Fils, er hat beste Empfehlungen, aber auch seinen Preis.
Den nehme ich. Das Beste ist genau richtig.
Sie wissen, dass Absinth mit Wasser verdünnt getrunken wird? Dieser hier am Besten im Verhältnis eins zu fünf. Und den Zucker nicht vergessen!
Jaja, ich kenne mich aus. Danke.
  
Zu Hause angekommen, sah Peter nach der Zeit: 18:30 Uhr. Gut! Die beste Zeit, um Absinth zu trinken, war zwischen 17:00 und 19:00 Uhr. 
Der Roman in seinem Kopf war wie ein fertiges Haus, dem der Eingang fehlte. Manchmal half Papier. Dann schrieb Peter den Anfang handschriftlich. Er hatte etliche Bleistifte zerbrochen, wenn ihm nichts einfiel. Er schaffte Platz auf dem Schreibtisch, nahm einen neuen Ringblock aus dem Schrank und legte Stifte bereit. 
Er öffnete die Flasche Absinth und goss ein Whiskeyglas halb voll. Die grüne Flüssigkeit strahlte und warf Reflexionen an die Wand. Mit Wasser verdünnt, würde die Reinheit getrübt, das Grün verblassen. Ob die grüne Fee dann trotzdem kommt?
Entschlossen hob Peter das Glas an die Lippen und trank die klare grüne Flüssigkeit. In seinem Kopf explodierten Sterne, dann Dunkel. 
  
Eine grüne Frau saß auf seinem Schreibtisch. Also nicht gleichmäßig grün, sondern wie grün gezeichnet. Wie auf dem Bild bei Wikipedia. Ein leichter Geruch nach Wermut und Anis ging von ihr aus. Die grüne Fee war tatsächlich zu ihm gekommen! Peters Herz schlug irgendwo im Hals, als wüsste es nicht, wo es hingehört. 
  
Du willst ein Buch schreiben? Einen Roman?, fragte sie. 
Ja, den besten Roman, den es je gegeben hat! Allein, mir fehlt der Anfang. Wirst Du mir helfen?
Du weißt aber, dass meine Hilfe nicht umsonst ist?, wollte die grüne Fee wissen. 
Peter zuckte mit den Achseln. Darüber habe ich gelesen. Trotzdem sind viele, denen du geholfen hast, weltberühmt geworden!
Nicht jeder bezahlt den gleichen Preis. Ich warne dich, willst du meine Hilfe dennoch?
Ein guter Anfang ist jeden Preis wert! Peter war sicher: Ja, bitte hilf mir. 
Du brauchst einen Anfang. Dann schreib! Mit diesen Worten verschwand die grüne Fee. 
  
In Peters Kopf entstand der absolut richtige Anfang. Er musste ihn nur schreiben. Da merkte er, dass er ihn schrieb. Ohne Hand, ohne Finger. Er war ein Bleistift. 
Peter erstarrte, dabei zog er unwillkürlich einen Strich über das Papier. Er war ein Bleistift! Wieso konnte er eigentlich sehen? Er blickte umher und sah sein Spiegelbild im Fenster. Fast hätte er aufgeschrien. Seine Augen, Nase und Mund waren umrahmt von Holz.
Er spürte in sich hinein. Er fühlte keinen Herzschlag, kein Atmen! Ob ich schon tot bin? Nein, dann könnte ich ja nicht denken. Während er dachte, bewegte sich der Stift, der er jetzt war und schrieb seine Gedanken auf. Versuchsweise öffnete Peter den Mund und sagte: Hallo? Obwohl er nicht atmete und keine Ohren mehr besaß, konnte er sich selber hören. Das glaubte er zumindest. Er rief: Grüne Fee! Hallo!
 Die Luft schien sich zu kräuseln, der Duft nach Anis und ein grünes Schimmern kündigten ihr Kommen an.

Du hast mich gerufen. Was kann ich für dich tun? Ihr Tonfall war sanft und freundlich. 
Peter versuchte zu schlucken, es ging nicht. Nun ja, also ich habe jetzt meinen Anfang gefunden. Herzlichen Dank dafür. Jetzt kannst du mich eigentlich wieder zurück verwandeln. 
Glockenhelles Lachen erklang, das Peter bis ins Mark seiner nicht mehr vorhandenen Knochen traf. Er suchte unsicher den Blick der grünen Fee. 
Du denkst, jetzt wo du hast, was du willst, kannst du dich aus unserer Verabredung schleichen? Lächelnd sah sie Peter in die Augen. Unser Vertrag endet, wenn ich so weit bin! Du hast das Dasein als Bleistift noch gar nicht kennengelernt, geschweige denn, dass du es würdigst. 
Aber was ist denn Besonderes an einem Bleistift? Er schreibt oder zeichnet, geführt von der Hand, die ihn hält. Peter war erstaunt. 
Deine Worte enthüllen dein Unwissen! Erst wenn Du gelernt hast, was es zu lernen gibt, entscheide ich, ob du deine frühere Gestalt wieder erlangst! Mit diesen Worten drehte sie sich um, verschwand in einem Wirbel aus Grün und ließ ihren Duft zurück, als solle er ihn an die Abmachung erinnern.

Da stand Peter. Am liebsten hätte er sich fallen gelassen, aber sein Geist hielt ihn fest in der Hand. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf und hinterließen Spuren auf dem Papier. Nur als er mit der Fee gesprochen hatte, hatte er nicht geschrieben. Also muss ich reden, dachte und schrieb er. 
Was kann sie nur meinen? Das Dasein eines Bleistifts. Nun, mal sehen, ein Bleistift schreibt oder zeichnet. Er ist nicht fähig, aus sich selbst zu handeln. Aber sonst? Ich glaube, ich konzentriere mich lieber wieder auf meinen Roman. Vielleicht wird mir ja später noch klar, was sie will! Er redete extra laut.
Entschlossen strich er seine Gedanken auf dem Papier durch und schrieb weiter an seinem Roman. Nur wenige Minuten später hatte er ein Problem. Das Blatt war voll. 
Er versuchte, seine Spitze unter das Blatt zu bekommen, um es umzudrehen. Immer wieder hinterließ er nur Striche auf den Blätterkanten. Egal, wie er sich verrenkte, es ging nicht. Verzweifelt rief er wieder nach der grünen Fee.

Du hast mich gerufen. Was kann ich für dich tun? Ihr Tonfall war sanft und freundlich. 
Mein Blatt ist voll! Ich kann nicht umblättern! Wie soll ich so meinen Roman schreiben?, klagte Peter. 
Ah, du hast die erste Lektion gelernt! Das freut mich. Ein Bleistift kann nicht umblättern! Wenn dein Blatt voll ist, sage einfach ‘blättern’ und ich blättere für dich. Damit wendete sie das Blatt um und verschwand. 
Gut, dachte Peter und schrieb Gut auf das frische neue Blatt. Also gut, sagte er. Ein Bleistift kann nicht blättern! Ich werde es mir merken! Er strich das Wort durch und schrieb weiter an seinem Roman. 
War die Seite voll, kam die grüne Fee und blätterte für ihn um.

… raste durch den Tunn – Peter schreckte auf. Das -el war nur als Kratzer auf dem Papier sichtbar. Er drehte sich ein wenig. Nun ging es. Wenige Worte später dasselbe. Seine Bleistiftspitze war abgeschrieben. Was nun? Er rief nach der grünen Fee.

Du hast mich gerufen. Was kann ich für dich tun? Ihr Tonfall war sanft und freundlich. 
Meine Spitze ist stumpf, ich kann nicht mehr schreiben!
Ah, die zweite Lektion! Du merkst, dass das Dasein eines Bleistifts nicht so banal ist, wie du dachtest. Dann will ich dich mal anspitzen. 
Das war eine unangenehme Erfahrung. Es roch nach Holzspänen und Graphit, während es Peter durch die Drehung schwindelig wurde. Den ziehenden Schmerz in seinem Herzen musste er sich einbilden, schließlich hatte er kein Herz mehr. 
Peter schrieb weiter. 
  
Wenn das Blatt voll war, kam die Grüne Fee und blätterte um. Wenn die Spitze abgeschrieben war, kam die grüne Fee und steckte ihn in den Spitzer. Die wachsenden Herzschmerzen ignorierte er. Er hatte schließlich kein Herz mehr. Er war ein Bleistift und der Roman wuchs. Er war noch besser, als Peter ursprünglich gedacht hatte. 
Er war fast fertig. Der Roman war hervorragend. Es fehlten nur noch die letzten Seiten mit der Auflösung. Peter schrieb und schrieb und kratzte über das Papier. 
Hey, grüne Fee, du musst mich anspitzen! 
  
Sie nahm den Stummel und warf ihn in den Müllschredder. 
Leider bist du zu kurz zum Anspitzen. Es ist nichts mehr übrig von dir. 

Du hat die letzte Lektion nicht gelernt. Die Mine ist das Herz des Bleistifts.