Gute Mutter

Der Junge im Bett wimmert. Sie verschließt ihre Ohren vor diesem Geräusch. Gleich ist Zeit für die Behandlung, aber noch kann sie die Dokumente studieren. Konzentriert vergleicht sie Statistiken und Tabellen. Das Jammern wird lauter. „Ich komme gleich!“ Sie verdreht die Augen. Der Computer summt. Gesine Hartmann geht zum hundertsten Mal alle Punkte durch, ihre Liste in Nicolas Ordner stimmt in allen Bereichen. Nicolas Medikamentencocktail ist optimal abgestimmt. Seit drei Wochen erhält er diese Kombination hochwirksamer Chemotherapeutika, bis auf einen Ausschlag gibt es keine Nebenwirkungen. Wie gut, dass sie sich immer auf dem Laufenden hält. Ohne ihre Anregung wären die Ärzte nie auf diese Idee gekommen. 

Nicolas Lautstärke steigert sich. Gesine Hartmann schließt den Deckel ihres Laptops. „Ich komme ja schon! Dass du nie Ruhe geben kannst.“ Mit kurzen schnellen Schritten eilt sie zum Bett. Ihre Schuhe klappern auf dem Linoleum. 
Als der Arzt das Zimmer betritt, verteilt Gesine mit ihren schlanken Fingern Salbe auf die nässenden Wunden ihres Sohnes. Es riecht durchdringend nach Jod. Der fünfjährige Nicolas weint: „Aua, nicht Mama – das tut weh.“ Er windet sich und strampelt, von einer Hand der Mutter ins Kissen gedrückt. 
Mitleid zurückdrängend antwortet sie bestimmt: „Halt still! Ohne die Salbe entzündet sich Deine Haut. Dann wird es noch schlimmer.“ Ihre Haare sind zu einem Knoten hochgesteckt, so streng wie das dunkelblaue Kostüm. Sie beendet ihre Arbeit und blickt Doktor Meier an. Innerlich gespannt wie eine Bogensehne, strahlt sie gefasste Ruhe aus. Die Ergebnisse sind da, schießt es ihr durch den Kopf. 

„Frau Hartmann“, zögernd nähert sich der Arzt einen Schritt. 
„Sie haben ihre Hände nicht desinfiziert, Doktor Meier“ weist sie ihn zurecht, während sie die Einweghandschuhe auszieht und in den berührungsfreien Mülleimer fallen lässt, Professionalität verdrängt jeden Anflug von Gefühl. Geruch nach Sterilium steigt auf, als beide das Mittel wortlos in ihren Händen verreiben. 

Nicolas Weinen weicht einem tieferen Atmen, erschöpft ist er eingeschlafen. 
Drei Jahre Kinderkrebsstation; Gesine hat sich eine enorme Kompetenz, die Krankheit und Behandlung ihres Sohnes betreffend, angeeignet. Selbst die unangenehmsten Pflegedienste übernimmt sie selbst, wer weiß ob diese Schwestern nicht etwas vergessen. Sie hat schließlich alles darüber gelesen. Auch Doktor Meier erkennt an, dass sie über Nicolas Krankheit mehr weiß, als er selbst. 

„Nicolas verträgt die Medikation abgesehen von der Hautirritation hervorragend. Das Antiemetikum konnten wir gestern absetzen“, erklärt sie. 
Der Mediziner beginnt erneut: „Frau Hartmann, kommen sie bitte mit ins Sprechzimmer? Die neuen Befunde sind da.“ 
„Ja natürlich, einen Augenblick.“ Gelassen mustert sie Nicolas, der im Schlaf leise schluchzt und überprüft die Fließgeschwindigkeit des Tropfs. Dann greift sie nach dem Ordner mit Nicolas Krankengeschichte. 

Der Weg zum Büro erscheint länger als sonst. Telefonläuten im Schwesternzimmer, Geschirrklappern in der Küche. Sie betreten das Sprechzimmer. „Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Setzen Sie sich doch“, rattert Doktor Meier herunter und nimmt hinter dem Schreibtisch Platz. Fahrig schiebt er einige Papiere auf dem Schreibtisch hin und her. 
„Doktor Meyer, ich bin wegen der Befunde hier." Sie lehnt sich auf dem Stuhl nach vorn. „Sicherlich haben Sie eine Kopie für mich.“ Ihre Hand streicht über die dicke Akte, die sie zu jeder Besprechung mitbringt. Ein ironisches Lächeln, das die Augen nicht erreicht, spielt um ihre Mundwinkel: Hat er diesmal dran gedacht? 
„Ja, ja natürlich, wie immer.“ 
Natürlich, wie immer - diese Antwort lässt ihr Lächeln kurz ins verächtliche abgleiten. 
Seine Augen auf die Papiere gesenkt, entgeht dem Arzt diese kurze Entgleisung. 

Er greift ihre Bemerkung aus dem Krankenzimmer auf: „Sie erzählten, dass Nicolas die Behandlung gut verträgt. Nun - das liegt daran“, ein Räuspern, „dass die Medikamente – nicht anschlagen.“ 

Stumm sieht sie ihn an. Die Gardinen tanzen leise in einem unmerklichen Luftzug. Das Summen der Neonröhren erscheint unerträglich laut. Frau Hartmann senkt den Kopf, ihre Hände streicheln gedankenverloren den Ordner auf ihrem Schoß, in ihrem Innern ein Schrei: Nein! Eine eiserne Faust umklammert Gesines Herz. Ein Zucken am linken Augenlid, mehr erlaubt sie sich nicht. 

Doktor Meier atme tief ein und setzt zum Sprechen an, da hebt sie ruckartig den Kopf, reckt die Schultern nach hinten und stellt fest: „Das bedeutet, Nicolas ist austherapiert.“ Sie rückt den Stuhl ein wenig nach hinten. Reglos fixiert sie den Arzt. 
„Nun - man kann natürlich noch einiges tun.“ Wieder räuspert er sich. „Es gibt sehr effektive Schmerzmittel und -“ 

Abrupt erhebt sie sich, den Ordner so fest umklammert, dass ihre Knöchel wie eine schneebedeckte Bergkette wirken. „Wenn das alles ist – Sie stellen mir bitte umgehend eine Liste der entsprechenden Medikamente zusammen.“ Mit durchgedrücktem Rücken und hocherhobenem Kopf rauscht sie aus dem Raum. 

Sie braucht dringend ihren Computer.