Gute Nachbarin

Schnipp, schnipp, Marias Finger bewegten sich autonom, schnitten Paprika in gelbe, rote, grüne Stücke, würfelten Zwiebeln. Scheiben von Gurken, Champignons, Mozzarella und Radieschen füllten Schüsseln. Eine Wolke aus herben, scharfen und milden Düften hing in der Luft.

So, gleich den Schinken, dann kann ich die Salattorte schichten. Dann die Suppe, die Frikadellen, den Kuchen und fertig für heute. Morgen noch -

Ding-Dong! Die Hände gewaschen und getrocknet, eilte sie zur Haustür.

 

Davor stand Charleen: „Hast Du Klopapier?“ Charleen, 24 Jahre, ein hübsches Mädchen, dem man nicht ansah, dass ihre Flamme die dunkelste im Kronleuchter war. Ihr heiteres Gemüt wog locker den Mangel auf. Charleen musste man einfach mögen.

„Augenblick!“ Maria lief in den Vorratskeller, holte eine Rolle Toilettenpapier und drückte sie in die erwartungsvoll geöffneten Hände.

Charleen schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, bevor sie sich wortlos umdrehte und verschwand.

 

Während Maria die Zutaten für die Salattorte in die Springform schichtete, sann sie über Charleen nach. Sie wohnte mit ihrem fünfjährigen Sohn Cosimo bei ihren Eltern und den drei jüngeren Brüdern Eleijah, Mason und Jayden. Antonia, die Mutter war leider einen halben Meter zu klein für Ihr Gewicht und insulinpflichtig. Daher hatte Charleen letzten Sonntag um 20:30 Uhr geklingelt: „Hast Du Traubenzucker? Mama braucht den“, und ihr charmantes Lächeln gezeigt.

 

Natürlich hatte Maria Traubenzucker, genauso wie in den letzten Wochen ungezählte andere Dinge. Nur beim Gummihammer zum Setzen von Zaunpfählen hatte sie die Waffen strecken müssen, was Charleens Lächeln vertrieb. Immerhin hatten Luftpumpe und Waffeleisen nach etwa einer Woche den Weg nach Hause gefunden. Das Bügeleisen hatte den Heimweg verweigert und musste abgeholt werden. Und die Lebensmittel -na ja.

Die Salattorte harrte inzwischen im Kühlschrank der morgigen Verzierung. Dafür erfüllte der Duft bratender Frikadellen die Küche. Gulaschsuppe blubberte ein leises Lied. Maria räumte die Spülmaschine aus und ein.

Kann ich die Suppe nachher auf der Terrasse lagern? Kalt genug ist es ja. Das Bild von Katzen oder anderen Tieren, Schemen in der Dunkelheit, die sich mit ihrem Gulasch den Bauch vollschlugen, wurde von einem Umzugskarton geschluckt, auf dem Steine lagen. Das müsste gehen. Maria drehte die Frikadellen um.

 

Ding-Dong: „Hast Du Zucker?“ Babyblaue Augen strahlten.

Wenn ich für jede Treppenstufe, die ich heute getreten habe, einen Euro bekäme, wäre ich Krösus, dachte Maria, als sie aus dem Keller zurückkam.

Wortlos nahm Charleen das Paket entgegen und entfleuchte.

 

Maria rettete die Frikadellen vor dem Hitzetod. Ärger regte sich in ihr: Plant Antonia ab und zu ihre Einkäufe? Und wieso kommen die zu mir? Haben die keine Nachbarn? - Ach, egal, ich hab noch viel zu tun. Der Hefeteig gewann unter ihren Händen immer mehr Geschmeidigkeit, die entsteinten Zwetschgen warteten auf ihr neues Bett. Maria knetete den Teig, der Ärger verflog.

 

Ding-Dong: Nicht schon wieder! Das Wutmonster kroch aus dem Winkel, in den Maria es eben verscheucht hatte, bereit sich auf Charleen zu stürzen. Mit Schwung riss Maria die Haustür auf: „Was ist denn jetzt - Oh, Entschuldigung.“ Mit hochroten Wangen unterschrieb sie die Empfangsbestätigung, die der Paketbote ihr reichte. Wie peinlich! Jetzt brülle ich schon andere Menschen an, weil ich mich über Antonia ärgere.

Als die Suppe fertig war, hatte sich der Teig verdoppelt und Maria ihre gewohnte Gelassenheit wieder gefunden. Sie summte vergnügt „In der Weihnachtsbäckerei“ während sie die Pflaumen anordnete.

 

Ding-Dong. Golden schimmerte Charleens Haar als sie fragte: „Hast Du Tomatenmark?“

 

Jede Treppenstufe ließ Marias Groll über Antonia wachsen. Na warte, Du wirst staunen! Als Maria zur Haustür kam, weiteten sich Charleens Augen ungläubig. Mit strahlendem Lächeln drückte Maria dem Mädchen eine prallvolle Tasche in die Hand: „Nudeln, Salz, Reis, Kaffeepulver, Mehl, Eier und natürlich Tomatenmark. Bestell‘ Mama liebe Grüße, das ist alles, was ich habe. Schönen Tag noch! Und - das Waffeleisen brauche ich selber.“

Bevor Charlene aus ihrer Starre erwachte, schloss Maria die Haustür und lehnte sich dagegen. Schmunzelnd stellte sie sich Antonias Reaktion vor. Dann machte sie sich wieder an die Arbeit.

 

Auf der Feier am nächsten Abend ergingen sich die Gäste in Lobeshymnen über das wunderbare Büffet. Besonders der Thunfisch-Reis-Salat mit Erdnussdressing fand reißenden Absatz. Alle waren sich einig, dass sie selten so gut gefeiert hatten.

 

Mehrere Tage später begegnete Maria Antonia und wurde von ihr keines Blickes gewürdigt. Nur Antonias Gesicht versteinerte, nicht einmal das Doppelkinn wagte ein kleines Beben.

 

 

Maria wandte ihr Gesicht der Sonne zu.