Wer bin ich?

Als ich eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich in meinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Ich schloss entsetzt die Augen und dachte: Du phantasierst! Unmöglich konnten die riesigen Fühler über meinem Kopf der Realität entsprechen. Sicher war ich noch in einem meiner Träume gefangen. Die ganze Nacht hatte es mich umgetrieben. Riesige Insekten, marsähnliche Landschaften, die Realität unerreichbar einen Schritt voraus im Nebel.

 

Die Lider zusammengepresst, zwang ich meinen Geist zur Ruhe. Bestimmt handelte es sich nur um Schatten des kahlen Ahorns vor meinem Fenster. Dazu die Trugbilder der Nacht und schon spinnt man rum. Beruhigt dachte ich: Du liest als nächstes einen heiteren Liebesroman, Science Fiction bleibt im Regal. Schwere umfing mich, weiter schlafen -

 

Meine Lage war unbehaglich. Auf dem Rücken liegend, fühlte sich alles irgendwie eckig, kantig, hart an. Das Plumeau eher Fessel als kuscheliges Nest. War ich doch noch auf dem Mars mit seinen rostroten Felsen und Steinen? Beim Drehen auf die rechte Seite wurde mir bewusst, dass nicht nur Arme und Beine, sondern zwei weitere Extremitäten angeordnet werden mussten. Ok, alles klar – dieser Traum war extrem realistisch: Liebeskomödie, unbedingt! Keine Aliens mehr.

Ich sortierte meinen Körper in Rechtslage und versuchte, weiter zu schlafen. Arm unter dem Kopf, Beine angezogen, zweite Beine angezogen.

 

Zweite Beine? Zweite Beine -

 

Fluchtartig schwindet jeder Gedanke an Schlaf.

 

Wieso habe ich zwei Beinpaare? Mein Herz tobt, Gedankenfetzen wirbeln durcheinander: Bin ich wach? Nein! Nein – unmöglich! Oder?

 

Als mein Herz nicht mehr den Geschwindigkeitsrekord brechen will, öffnen sich zögernd meine Augen: über mir zwei riesige Tentakel. Ängstlich drehe ich den Kopf – die Fühler schwingen synchron. Sie gehören zu mir. Ungläubig versuche ich, sie zu bewegen – tatsächlich, sie gehorchen meinen Gedanken. Kann das wahr sein? Eine Atempause lang schließe ich die Augen. Gedankenleer. Frösteln. Was ist passiert?

 

Ich werfe unbeholfen die Decke von mir, die mich fesselt. Dabei entdecke ich, dass meine Arme seltsam abgeknickt sind. Sie sind an der Innenseite gezackt, Hände habe ich nicht mehr. Stattdessen Gliedmaßen mit Haken, Zangen. Dennoch kann ich mit ihnen meine Fühler streicheln. Ich fühle mich beengt. Ich strampele mit meinen vier Beinen, bis die Decke zu Boden fällt. Frei.

 

Bedachtsam bewege ich meinen Kopf. Seltsamerweise dreht er sich immer weiter und weiter. Das lass ich mal lieber! Alles wirkt irgendwie grün. Faszinierend. Die Furcht fällt von mir ab, ich erkunde meinen Körper.

 

Mein Leib ist geteilt: Kopf – Oberkörper – Unterkörper. Eine Taille, für die ein Model morden würde. Kräftige Fangarme wachsen am Brustkorb, Schwarzenegger wäre neidisch. Dafür sind die Beine zierlich, fast zerbrechlich. Mein Kopf ist ein Dreieck. Riesenaugen in den oberen Ecken. Nicht meine Umwelt ist hart und kantig, ich bin es. Ungläubig erfasse ich, dass mein Körper gepanzert ist. Was bin ich? Wer bin ich?

 

Das kann nur ein Alptraum sein! Warum sollte ausgerechnet ich so verwandelt sein? Ich bin angepasst, nett. Vielleicht zu nett. Alle Menschen akzeptiere ich, wie sie sind, nehme mich selbst zurück. Gut, ehrlicherweise leugne ich eigene Bedürfnisse oft. Immer bereit, schlechtes Benehmen und Arroganz zu entschuldigen. Schließlich gibt es Gründe, warum meine Mutter mich kontrollieren will, Meyer meine Ideen abbügelt, mein Chef mich nicht ernst nimmt. Sie alle haben ihr Päckchen zu tragen. Dass ich dabei oft zurückstecke, ist doch normal. Oder?

Ich habe viele Ideen, aber niemand hört zu. Damit kann ich leben. Oder?

Die Psychologin riet zu einem Selbstbehauptungskurs, gesunde Abgrenzung sei nötig.

 

Ich wälze mich aus dem Bett. Mein Spiegel zeigt mir eine riesige Gottesanbeterin. Bin ich das? Ich bin.

 

Nach und nach teste ich meine Glieder aus. Gut.

Ich bin aufgerichtet etwa zwei Meter groß. Sehr gut.

Ich bin ein Raubtier. Hervorragend.

 

Meine Fangarme sind ein Argument. Selbstbewusstsein keine Frage mehr. Meine Skrupel – welche Skrupel?

 

Insekten haben keine Skrupel.