Anno 1518

Knie nieder, Amrit! Deine Rede ist Frevel!

Klatsch!

Nicht die ersten Schläge wegen mangelnder Demut.

Beichte – die Hölle erwartet Dich!

Die Witwe war erbarmungslos. Ihr Schatten drückte das Mädchen zu Boden.

Wieder eine Nacht kniend vor dem Kreuz.

Dabei hatte sie nur gefragt, warum reiche Leute nicht in die Hölle kommen.

 

Auf dem Markt zwitscherte die Luft neuerdings Geschichten über Martin. Selbst Mönch, sprach er sich gegen Beichte aus, malte ein neues Gottesbild. Nur wer Jesus folgt, ist Gott nah. Gnade gewährt Gott allein. Eine Fassung seiner Ideen hatte Amrit ergattert. Jeder Satz zerschlug einen Stein der Mauer, die ihre Seele einsperrte.

 

Sie begann, ihre Gedanken aufzuschreiben.

„Hier steckst du!“

Amrits Kopf flog hoch.

Witwe Benheims Gesicht war hochrot, Spuckebläschen auf den Lippen. Mit in die Hüfte gestemmten Fäusten beugte sie sich vor. „Was machst du da?“ Ihre Hände ergriffen das Papier, bevor Amrit es verstecken konnte. Stockend las sie: „Bruder Martins Glaube ist wunderbar. Er befreit und sperrt nicht ein. Papst Leo muss einseh-“ ihr Blick huschte zu dem Mädchen. Der Witwe Augen verengten sich. „Das ist gottloses Zeug! Welcher Teufel hat dir solche Flausen in den Kopf gesetzt?“

„Aber Herr Martin ist studiert. Er-“

„Schweig! Danke Gott, dass du Lesen und Schreiben lernst. Benutze diese Gaben zur Verherrlichung Gottes und seiner Stellvertreter und nicht, um ketzerische Gedanken aufzuschreiben.“

„Aber warum gilt Unterschiedliches für Reiche -“

„Sprich nicht ungefragt! Danke Gott, dass Du hier sein darfst. Ab in die Küche. Über dein Vergehen richte ich.“ Witwe Benheim begann, Amrits Sachen zu durchwühlen.

 

Nach dem Nachtmahl erhob Witwe Benheim ihre Stimme: „Mädchen, wenn ihr mit euren Abendaufgaben fertig seid, kommt zusammen. Amrit muss etwas gestehen.“

Unter Getuschel räumten alle ihre Tische ab und verschwanden zum Säubern des Geschirrs im Hof. Was mochte Amrit getan haben? Großäugig versammelten sie sich in der Stube. Kerzen erhellten den Tisch, hinter dem Witwe Benheim thronte.

Amrit stand mit gesenktem Kopf davor, das Gesicht hinter Haar versteckt.

„Heute Abend hört gut zu und merket euch, was geschieht. Lasst es euch eine Lehre sein, auf dass ihr gehorsame Jungfern werdet. Amrit! Bekennst Du dich schuldig, dem Teufel verfallen zu sein?“

Die Mädchen erstarrten. Ihre Augen wanderten zwischen Angeprangerter und Richterin hin und her. Amrit schwieg. Ein Scheit spuckte prasselnd Funken, die Kinder zuckten zusammen.

„Nicht genug, dass sie den Einflüsterungen des Satans erlag, sie erdreistet sich, dessen Ansichten aufzuschreiben.“ Witwe Benheim wedelte mit Papier. Ihr Blick fixierte jedes einzelne Augenpaar. „Amrit wird die Nacht in der Kapelle verbringen, kniend um Verzeihung beten. Zuvor jedoch“, sie genoss die gespannte Aufmerksamkeit. „Zuvor wird sie diese unseligen Schriften als Buße den Flammen übergeben. Besser ihre Worte brennen, als ihre Seele ewiglich im Fegefeuer!“

Zögernd nahm Amrit die Blätter von der Witwe entgegen, bebend vor Empörung. Was war recht? Höllenstrafe oder Gnade von Gott, wie Martin erzählte. Sie stand vor dem prasselnden Feuer. Ein Stoß ließ sie taumeln, tränenblind öffnete sie die Hand und sah ihr Herzblut in der Glut aufflammen.

 

Nacht in der Kapelle: Sturm tobte in ihrer Brust. Beichte, Amrit – gestehe! - das sagte die Witwe; nur Gott kann Sünden erlassen – das meinte Martin. Ihre Gedanken wirbelten. Obwohl Frühling war, herrschte nachts der Winter. Zähneklappernd erhob sie sich irgendwann, ihre Knie knackten und ächzten wie die einer alten Frau. Nein, ich lasse mich nicht wieder schmähen! Ihr Schrei schreckte die Schatten auf, hallte im leeren Gotteshaus: „Gott ist die Antwort! Nicht Priester entscheiden, wer des Himmelreichs ist. Martin hat Recht. Ich werde Martin folgen! Ich finde einen Weg.“

 

Endlich war Witwe Benheims Woche vorüber, vier Wochen Ruhe vor ihrer Häme. Witwe Sachs, deren Hand nicht so locker saß, übernahm. Am Freitag rief sie Amrit: „Es gilt Verrichtungen auf dem Markt zu erledigen. Nimm einen Karren und besorge Pastinaken, Kohl und Talg.“

Amrits Augen glänzten, ihr Herz hüpfte, der Markt! Vielleicht gäbe es Neues über Martin zu erfahren. Leichtfüßig lief sie die Winklergasse hinab zum Hauptmarkt. Der Karren rumpelte ein Frühlingslied. Gleich vornean stand die dicke Ursel mit ihrem Kohl. Amrit drängelte durch die Menge, ihren Karren wie ein Bollwerk vor sich her schiebend.

Der kräftige Grünkohlgeruch mischte sich mit dem Duft nach Honig, Stimmengewirr lag summend in der Luft, von Marktschreiern übertönt: „Beste feinste Spitze aus Mailand!“ – „Die dicksten Karotten – knackig wie das Hinterteil deiner Magd!“ – „Feinste Spezereien!“

„Hallo Amrit. Ich hab dich die Woche vermisst. Bekommst du das Übliche?“ Ursels Wangen glänzten im Wettbewerb mit ihren Augen. Grübchen betonten ihr warmes Lächeln.

„Ja, wie immer. Außerdem ein Maß Essig und ein viertel Salz. Veit Stoß zahlt diese Woche.“ Amrit stapelte die Kisten Grünkohl auf ihrem Wagen. „Habt Ihr Neues von Bruder Martin erfahren?“

Schmerzhaft traf sie ein Stoß, als eine andere Karre den ihren rammte. Mehr erschrocken als erbost schrie sie: „Du Tölpel! Pass doch auf!“

„Oh, tut mir leid. Ist alles in Ordnung?“ Ein magerer Junge sah sie mit aufgerissenen Augen an.

So lernte sie Henlin kennen. Er arbeitete in der Gleismühl von Jörg Tirman vor den Toren Nürnbergs. Dort wurde aus Lumpen Papier hergestellt.

„Du hast Ursel nach Bruder Martin gefragt. Warum?“

„Ich besinne, was er sagt. Im Findelheim werde ich dafür bestraft. Aber ist seine Meinung falsch? Gerechter ist sie auf jeden Fall!“

„Das stimmt, Amrit. Ich überlege auch oft darob.“

„Weißt du, ich schreibe immer auf, was ich darüber denke. Aber Witwe Benheim hat mich gezwungen, all mein Papier zu verbrennen“ schilderte Amrit traurig.

Henlein munterte sie auf: „Wenns nur am Papier liegt, das kann ich mitbringen. Wir haben immer Reste, aber wo bekommen wir Tinte?“

Amrit lachte auf: „Tinte ist ganz einfach. Man braucht nur Eichenrinde, Essig und Salz. Und natürlich ein Gefäß.“ Sie verabredeten sich für Sonntag.

 

Seitdem trafen sie sich jede Woche, kochten Tinte und schrieben ihre Ideen nieder. Treffpunkt war der Felsengang am Neutor. Nach und nach wuchs ihre Gruppe. Sie redeten und schrieben über Bruder Martins Ideen.

„Martin sagt, dass Gnade nur bei Gott zu finden ist. Warum sagen Priester, dass man für sein Seelenheil bezahlen kann?“ Marie war ratlos.

Henlein erklärte: „Ich denke, die Pfaffen wollen nur das Geld. Der Papst badet im Luxus und predigt Armut. Das passt doch nicht!“

„Genau, und Martin sagt, niemand kann Gott bestechen. Gott braucht kein Geld.“ Amrit war sich sicher.

Aneinandergedrängt schmiegten sie sich an die Wand. Das Wasser zu ihren Füßen gurgelte, die Luft trug ein Kleid aus Mäusekot und ungewaschenen Hälsen. Kratzgeräusche, als eine Hand versuchte, der Läuseplage einen vernichtenden Schlag zu erteilen. Die Kerze flackerte, billiger Talg, Besseres lag außer Reichweite.

„Wir müssen zurück, sonst gibt es kein Abendmahl. Gerade heute, wo wir Pratwurst bekommen“, mahnte Alfred.

Murrend schoben sich Rücken an der Wand hoch, die zehn Kinder balancierten den Steg entlang.

 

Am Ausgang lugte Amrit in die Gasse, da fühlte sie sich am Kragen gepackt und hervorgezogen.

Eine humorvolle Stimme erklang: „Wen haben wir denn da?“

Amrit blinzelte. Vor ihr stand ein Junker mit imposantem Bart. Ungelenk knickste sie: „Erbarmen Herr, bitte verratet uns nicht.“

Amüsiert lächelte er: „Geheimnisse, kleine Maid? Nun, tue kund, was du in den Kasematten treibst. Und wer ist ‚uns‘?“

Amrit drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern: „ Erlaubt zuvor eine Frage. Was denkt Ihr über die Hölle?“

„Nun, ich habe dich gerade aus ihren Gängen gezogen“, grinste der Jüngling. „Aber ernsthaft, das ist eine Frage, welche keine einfache Aufklärung findet.“

Amrit fragte mit klopfendem Herzen: „Was denkt ihr über Bruder Martins Antworten?“

Nachdenklich musterte der junge Mann die Jungfer: „Was meint ihr denn dazu?“

„Wir dürfen nicht über Bruder Martin sprechen, darum treffen wir uns hier. Wir schreiben auf, was wir meinen.“

Als der Junker hörte, wie die Kinder an Papier und Tinte gelangten, lachte er aus tiefster Brust: „So viel Einfallsreichtum, echte Nürnberger! Kommt nächsten Sonntag zum schönen Brunnen, dann schreiben wir gemeinsam.“

 

Aufgeregt schmiegten sich die Kinder aneinander. Zögernd betraten sie das Haus, zu dem der Knappe sie geführt hatte. Amrit erschrak, in der Stube saß ein Mönch am Feuer.

„Sagt, wer ist es, der dort sitzt?“ flüsterte sie zum Knappen.

Der Mönch hob den Kopf, lächelnd antwortete er: „ich bin Bruder Martin, Martin Luther geheißen.“ Aufmerksam musterte er die Kinder mit warmem Blick: „Der Herr spricht: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihrer ist das Himmelreich. Ich sage: Die Nachtigall ist nur ein kleines Vögelein, und dennoch füllt es Himmel und Erde mit seiner Stimme. Tretet ein und lasst uns gemeinsam Gottes Wort verbreiten.“