Weihnachten

Lange vor Weihnachten war unser Wohnzimmer abgeschlossen. Abends spielten wir am Küchentisch Gesellschaftsspiele. Wir Kinder waren natürlich neugierig, was im Wohnzimmer passiert. Die Eltern erzählten, dass das Christkind mit seinen Engeln im Wohnzimmer alles für Weihnachten vorbereitet. Opa Schleiden, der unten im Haus mit Oma Schleiden wohnte, sagte, wenn man durch das Schlüsselloch guckt, pusten die Engel einem Pfeffer in die Augen. 
  
Im letzten Jahr war ich so neugierig, dass ich trotzdem durch das Schlüsselloch lugte. Es muss ungefähr eine Woche vor Weihnachten gewesen sein. Auf dem Wohnzimmertisch glitzerte es rot und silbern. Ich lief zu Mutti und rief: „Mutti, das Christkind ist da!“ 
„Ursel, wie kommst Du denn darauf? Es ist doch noch viel zu früh!“ 
„Aber Mutti, dann sind bestimmt die Engel da! Auf dem Wohnzimmertisch glitzert es silbern und rot!“ 
Mutti wurde ganz blass. „Geh spielen Ursel, das ist Unsinn. Ich möchte kein Wort mehr davon hören!“ 

Enttäuscht ging ich in unser Zimmer. Marie war zum Spielen, so hatte ich es für mich. Ich nahm meinen Block und die Stifte, um zu Malen. Später hörte ich Vati kommen. Obwohl ich ihn sonst immer begrüßte, war mir heute nicht danach. Mutti glaubt mir nicht. Den schwarzen Stift musste ich oft anspitzen.

Irgendwann wollte ich zu Vati. Seine Umarmung war so groß, dass ich ganz in ihn hineinkriechen konnte. In der Küche war nur Mutti. Ich fragte: „Wo ist Vati?“ 
„Er ist noch mal zu Oma Olef. Er muss ihr helfen, - den Rasen zu mähen.“ 

„Ach“, enttäuscht ging ich aus der Küche. Gleich rechts war die Wohnzimmertür. Ich traute mich nicht, in ihre Richtung zu schauen, aber – hörte ich da nicht etwas rascheln? Wie angewurzelt blieb ich stehen und spitze die Ohren. Jetzt glaubte ich sogar, dumpfe Schläge zu hören. Schnell lief ich weiter. Ich schloss die Zimmertür hinter mir und lehnte mich dagegen. Das kann ja gar nicht sein! Mutti hat gesagt, es ist zu früh. Aber warum schloss das Christkind die Tür immer schon zwei Wochen vor Weihnachten ab, wenn es dann doch erst an Heilig Abend kam? 
Seltsamerweise war der Weihnachtsbaum letztes Jahr dann mit Schnüren an Nägeln rechts und links in der Wand festgebunden. 
  
Dieses Jahr an Heilig Abend gab es wie immer Kartoffelsalat mit Würstchen. Das mochte ich nicht so sehr, aber wir Kinder waren gespannt wie Flitzebogen, also aßen wir auch den ungeliebten Kartoffelsalat. Nach dem Essen wurde aufgeräumt und gespült. Als alles schön ordentlich war, spielten wir Maumau und Kniffel. 
Vati sagte: „Marie, kannst Du mir einen Gefallen tun? Ich muss zur Toilette, gehst Du für mich?“ 
Meine Schwester ging für Vati zur Toilette. Sie kam in die Küche und sagte: „Vati, du musst ja gar nicht!“ 
Wir spielten weiter. 
Dann sagte Vati: „Ursel, jetzt muss ich wirklich! Kannst Du für mich gehen?“ 
Natürlich ging ich. Die Küchentür war am Ende des Flurs, schaute man zur Wohnungstür, war links gegenüber vom Wohnzimmer das Badezimmer. Ich ging also ins Bad. Diesmal musste Vati wirklich! Ich zog ab und wusch mir die Hände. Das Wasser war eiskalt und roch nach Schnee. Auf dem Fenster wuchsen Eisblumen. 
  
Als ich aus dem Bad kam, hörte ich leise Musik. Ich blieb stehen, lauschte. Mein Blick fiel zufällig auf die Wohnzimmertür gegenüber. Sie stand einen Spalt weit offen! Jetzt roch ich auch den Duft nach Kerzen, Plätzchen und Weihnachtsbaum. Ich stürzte in die Küche: „Das Wohnzimmer ist offen! Das Christkind war da!“ 
Alle standen auf. Mutti und Vati gingen voran, wir Mädchen hinterher.

Im Wohnzimmer war ein glitzernder Weihnachtsbaum, der mit zwei Schnüren an Nägeln in der Wand festgebunden war. Lametta reflektierte das Flackern der brennenden Kerzen. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Plätzchen, die Mutti mit uns in den vergangenen Wochen gebacken hatte. Unsere Puppen, die das Christkind vor einiger Zeit abgeholt hatte, saßen in wunderschönen neuen handgearbeiteten Kleidern auf dem Sofa. In einer Ecke des Wohnzimmers waren die Geschenke aufgebaut: Viele Päckchen in buntem Papier mit glänzende Schleifen. 
  
Auf dem Wohnzimmertisch lag aufgeschlagen die Bibel. Dieses Jahr sollte ich zum ersten Mal die Weihnachtsgeschichte lesen. Ich war ja jetzt groß, dritte Klasse, acht Jahre alt. Ehrfürchtig nahm ich die Bibel in meine Hände und begann: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ Alle hörten aufmerksam zu. Leise klangen Glockentöne und Weihnachtslieder vom Plattenspieler. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“ Geschafft! Fast ohne Fehler, mir fiel ein Stein vom Herzen. 
  
Vati machte den Plattenspieler aus. Jetzt wurde gesungen. Wir sangen drei oder vier Weihnachtslieder. Endlich war Bescherung! Im Hintergrund ertönten wieder Weihnachtslieder vom Plattenspieler.
  
Wir bewunderten die neuen Kleider unserer Puppen. Jeder setzte sich hin, Mutti sorgte dafür, dass alle etwas zu trinken hatten. Unsere Kleinste, Moni, holte ein Geschenk nach dem Anderen vom riesigen Geschenkehaufen. Mutti las dann, für wen es war und alle schauten gespannt zu, was da ausgepackt wurde. Jedes Geschenk wurde gewürdigt. Marie war nah am Wasser gebaut. Sie weinte bei fast jedem Geschenk vor Freude. Zwischendurch huschten wir Kinder in unsere Zimmer und schmuggelten unsere Geschenke für Mutti und Vati zu den Anderen. Dann waren alle Geschenke ausgepackt. 
Zu den Kleidern, die meine Puppe anhatte, bekam ich noch einen gestrickten Mantel, Schal, Handschuhe und Mütze. Alles passte wunderbar zusammen. Dann gab es noch ein Buch, das ich mir gewünscht hatte und Bögen mit Anziehpuppen! Darüber freute ich mich sehr. Ich holte meine Bastelschere und fing gleich an, die Puppe und die Kleider auszuschneiden. 
Mutti und Vati haben sich über mein Bild und die Strohsterne sehr gefreut. Die Sterne hingen wir gleich in den Weihnachtsbaum. 
Später kamen Oma und Opa, wünschten frohe Weihnacht und brachten noch ein paar Geschenke, die das Christkind aus Versehen bei ihnen abgeliefert hatte. 
  
Das waren bestimmt die Engel schuld, die haben nur auf die Adresse geschaut und nicht gemerkt, dass unser Weihnachtsbaum oben ist. Aber komischerweise haben sie auch jedes Jahr einige von unseren Geschenken zu Oma Olef gebracht, die wir dann am nächsten Tag bei ihr bekamen.

Vielleicht müssen die Engel vom Christkind noch mal in die Schule gehen, um zu lernen, wo die Kinder wohnen.