Wettermeister

 

 Hamburg war der letzte Ort, in dem ich Urlaub machen wollte.

 

Nur weil Mario die Ferienwohnung gebucht hatte. Mario, mein freakiger Kollege. Wir waren Programmierer und mussten in den Urlaub geprügelt werden.

Vorgaben - Einflüsse - Folgerungen ergeben Code. Das war unser Leben. Tag und Nacht. Urlaub - was ist das?

Unser Fieldmanager hatte uns beiden Urlaub verordnet. Ich zögerte noch so rum, aber Mario buchte eine Ferienwohnung. Dummer (oder glücklicher)-weise war Mario ins Leere getreten, was seine Achillessehne mit einem Peitschenknall quittiert hatte. OP und monatelange Krankschreibung folgten. Also fragte er mich, ob ich seine Ferienwohnung übernehmen würde. Weil ich noch keine Urlaubsplanung hatte und er die Kosten tragen würde, sagte ich zu. Und jetzt war ich in Hamburg und nicht auf Fuerteventura. Alles eine Frage der Gelegenheit.

Was gibt es in Hamburg? Den Hafen, die Speicherstadt, Wasser  - kein Strand, keine Sonne, kein Feeling. Was macht man in Hamburg als allein reisender Mann? Da wollen vierzehn Tage erst mal gefüllt werden. Schlechtes Wetter ist quasi mitgebucht. Wer fährt denn freiwillig nach Hamburg? Ich jedenfalls nicht. Aber gut, geschenkter Gaul…

 

Ich langweilte mich so durch die Stadt. Straßen, Plätze, Häuserfronten. Naja, hat Köln, hat Amsterdam, hat Trier. Nix Neues, nix weltbewegendes. Ich latschte durch Sprühregen, da tauchte in meinem Blickfeld ein Café auf, keine bekannte Marke, kein Bäcker mit irgendwas im Angebot, einfach ein Café. Ich war inzwischen klatschnass, irgendwie gilt die Regenfestigkeit meiner Jacke nur für Sturzregen. Wenn kleine, fast schon Luftfeuchtigkeits-entsprechende Regentropfen diese hochtechnologische Jacke treffen, ignorieren sie einfach das Regen-Stoppschild und kriechen hindurch. Außen ist die Jacke trocken, funktioniert! Aber innen bist Du feucht, nicht so der Burner.

Also enterte ich das Café ohne Namen, um mich mit einem Getränk aufzuwärmen.

Kaffee, Zimt, Kakao, diese Gerüche weckten ein warmes Gefühl und ließ mich fast die Feuchtigkeit meiner Klamotten vergessen. Ich verkroch mich in eine Ecke, studierte die Karte und entschied mich für einen Milchkaffee.  Irgendwann kam eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, an meinen Tisch und notierte meine Bestellung. Lustlos schob ich die Karte auf dem Tisch hin und her. Meine Augen machten Ausflüge, mein Gehirn analysierte. Ah, da ist der Notausgang; dort geht es zu den Toiletten; ob der Stuhl wirklich diese überquellende Frau lange genug tragen kann? An den Wänden hingen Bilder zum Thema Kaffee. Viele Kaffeebohnen; eine Kaffeetasse, von der spiralförmig Dampf aufsteigt; fleißige Frauen, die zwischen Kaffeesträuchern arbeiten.

 

Die junge Frau brachte meinen Milchkaffee. Auf der Untertasse lag, Überraschung: - in Zellophan verpackt - ein Keks. Wie originell. Meine Finger machten sich selbständig, zupften hier, zupften da am Zellophan und wurden mit Knistern und Knastern belohnt. Wärme strahlte von der Tasse und verführte meine Hände dazu, sich um diese zu legen. Dichter weißer Schaum mit einem Hauch von Kakaopulver, welches ein Herz bildete, bedeckte den Inhalt. Ein Herz, ha! Meine rechte Hand griff nach dem Löffel. Nimm dies, Herz. Mitten hinein und dann gerührt.

 

„Das arme Herz! Was hat es denn verbrochen, dass Sie es so grausam zerstören?“

Eine warme Stimme, dunkel wie die Schokolade, die gerade ein Bad in meinem Kaffee genoss, drang an mein Ohr.

„Ach, Herzen werden doch total überbewertet. Aber wenn es Ihnen so leid tut, dann trinken Sie doch auch einen Milchkaffee und zeigen mir, wie Sie das Herz vor der Zerstörung retten.“ Ich blickte auf. Und versank in den unglaublichsten Augen, die ich je gesehen hatte. Grün wie ein Baum im tiefsten Wald, dunkel mit goldenen Einsprengseln, wie Sonnenstrahlen, die durchs Blätterdach tanzen. „Bitte setzen Sie sich doch.“ Hypnotisiert sagte ich diese Worte, die mir bei klarem Verstand niemals über die Lippen gekommen wären. „Ich lade Sie ein.“

„Gern, vielen Dank. Aber nur wenn Sie sicher sind, dass es Sie nicht stört, wenn meine Sachen vor sich hin dünsten. Meine supertolle Wind- und Wetterjacke ist scheinbar nicht im Hamburger Nieselregen geprüft worden. Alles ist klamm!“

Meine Augen lösten sich mit einem Plopp von den ihren und musterten die Jacke, die sie trug. „Ah, von Wettermeister! Dieselbe Erfahrung habe ich auch gemacht. Außen trocken, innen feucht.“

 

Sie schälte sich aus Ihrer Jacke und ich kam nicht umhin, festzustellen, dass sich eine durchaus ansprechende Figur unter dem Wind- und Wetterungetüm versteckt hatte. Also ansprechend für mich: gerundete Hüften, ein niedlicher kleiner Bauch, Brüste in einem Format, dass nicht drohte, mich bei einer unbedachten Bewegung zu erschlagen.

„Genau - Orkan und Sturm und Regengeister, sind kein Problem für Wettermeister! Selten so gelacht. Hallo, ich bin Saskia.“ Sie grinste und streckte mir ihre unberingte Hand entgegen. „Ich dachte, ich bin für alles gerüstet, aber das Hamburger Wetter ist im Moment doch speziell.“

Ein Hauch ihres Parfüms stieg mir in die Nase. Fruchtig - Frisch, leicht wie eine Brise. Sie hatte mir ihren Vornamen genannt! Heißt das das jetzt, dass wir per Du sind?

„Am liebsten trägt ein Weitgereister -“

„ - die Outdoorkluft von Wettermeister!“ Gemeinsam mit mir beendete Saskia den Werbespruch.

Wir lachten, ein warmes Gefühl stieg in mir hoch. Inzwischen hatte ich auch ihrem Gesicht einen Blick gegönnt. Dezent geschminkt, Lachfältchen in den Augenwinkeln, eine geradlinige Nase und ein Kinn, welches auf Selbstbewusstsein schließen ließ. Zur Wärme gesellte sich ein Kribbeln, von dem ich dachte, dass es sich längst aus meinem Leben verabschiedet hätte. Also los, Vorname und Du. „Oliver“, stellte ich mich vor. „Was machst Du in Hamburg?“

„Ich bin beruflich hier. Ursprünglich sollte ich nach Rom, aber mein lieber Kollege, der eigentlich nach Hamburg sollte, hat sich auf unbestimmte Zeit krankheitsbedingt verabschiedet. Also musste ich einspringen.“

 

Wir lachten, erzählten, erzählten, lachten. Auch Saskias Schokoladenherz tauchte irgendwann im Kaffee unter. Aus dem Kribbeln waren längst Schmetterlinge geworden. Sie war unglaublich witzig, wir lachten über das Hamburger Wetter, die Zufälle, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, über Gott und die Welt. Zwei weitere Schokoherzen fanden ihr Grab im Milchkaffee. Irgendwann waren wir wieder trocken. Der Regen hatte sich in die Wolken zurückgezogen.

Saskia sagte betrübt: „Es hat wirklich Spaß gemacht, mit Dir Herzen zu versenken. Aber ich muss noch eine Präsentation vorbereiten. Hast Du Lust, morgen mit mir Herzen zu retten?“

„Auf jeden Fall! Wann hast Du Zeit?“ Jeah, sie will mich wieder sehen.

„Das kann ich leider nicht genau sagen. Es hängt vom Kunden ab. Am besten tauschen wir unsere Handynummern, dann kann ich Dich anrufen, wenn ich Schluss habe.“

Wir speicherten unsere Nummern gleich ab. Ich bezahlte und half Saskia in ihren Wettermeister. Sie drehte sich um, unsere Blicke versanken ineinander. Zögernd hob sie ihre Hände und legte sie auf meine Wangen. Ich beugte den Kopf. Unsere Lippen trafen sich fast zu einem ersten Kuss. Viel zu schnell war dieser Augenblick vorbei.

„Ich freue mich auf morgen!“ Saskia zog ihren Reißverschluss hoch, winkte mir zu und eilte aus dem Café.

Mein Herz raste. So hatte ich mich zuletzt Mitte Zwanzig gefühlt. Niemals hätte ich geglaubt, noch einmal so zu empfinden. Ich zahlte, gab viel zu viel Trinkgeld. Mein Wettermeister „schützte“ erneut mein T-Shirt.

 

 

 Beschwingt verließ ich das Café. Ihre Telefonnummer gespeichert, ein unbestimmtes Date für morgen. Mein Herz skandierte: Bum-Bumbum, Sas-ki-a, Sas-ki-a. Hamburg war gar nicht so übel. Ich sah den einen oder anderen Sonnenstrahl, der durch die Wolken tanzte.