Farben

Ein Wassertropfen, erstarrt in Bewegung, zersprungen in Kinder seiner selbst. Darunter kreisförmige Wellen - blau, so blau, ebenfalls reglos. Mein Blick wird hineingezogen in unendliche Bläue, mittelblau, dunkelblau, glänzendblau, kühl. Ein Hauch Zitrone liegt in der Luft. Ich verliere mich in diesem Blau. Das Meer rauscht, Amöben wimmeln, Wellen streicheln meine Haut, ein Baby schwebt im Fruchtwasser, Regen rauscht lebensspendend, Wasserfälle glitzern im Sonnenlicht und erzeugen winzige Regenbögen. Harfenklänge und der Duft frischgemähten Grases hüllen mich ein, während ich in blauen Bildern bade.

 

Mein Unterbewusstsein kratzt am Blau. Verträumt schiebe ich es zur Seite, aber eine leichte Spannung neckt meine Nerven. Hartnäckig wie ein leises Ziehen im Zahn das sich unmerklich steigert, beharren meine Sinne darauf, der Störung nachzugehen. Ein schmieriger Fleck stört das Blau. Einmal geweckt, aus der Tiefe geholt, registriere ich Fingerabdrücke überall. Das Blau zieht sich zurück.

 

Alles ist verschmiert. Kann denn hier keiner aufpassen? Jeden Tag dasselbe! Automatisch greifen meine Hände zu Reinigerflasche und Papier. Behutsam erwecken sie das Blau zu neuem Leben. Pscht - pscht macht die Sprühflasche, verstärkt den Duft nach reifen Zitronen. Wasser läuft in meinem Mund zusammen. Ob es auch so schön fallen würde? - Nein, Spucke zieht Fäden!

 

Alles wieder sauber. Wasserrauschen - ein Fluss, der sich seinen Weg durch Felsgestein bahnt. Libellen stehen in der Luft. Einen Moment zögere ich. Verlockend glänzt mir Blau in Blau entgegen. Kühle Ruhe streckt suchend ihre Fangarme aus. Nein! Die Betten, die Waschmaschine, das Bügeleisen warten! Mit einem Ruck breche ich den Bann. Der Alltag hat mich wieder, aber das Blau trägt mich hindurch.

 

Ding - Dong, die Kinder kommen. „Mama, ich hab‘ Hunger. Was gibt’s zu essen?“

Kann das Kind überhaupt noch etwas anderes sagen? In der Pubertät verkleinert sich der Wortschatz eindeutig!

„Mama, Frau Dings ist sooo ungerecht! Ich hab‘ überhaupt nichts gemacht -“

Nein - niiieeemaaals. Du bist die Unschuld in Person!

Das Blau zieht sich zurück. - Warum sind Kinder nicht in der Lage, in Zimmerlautstärke zu kommunizieren?

Nach dem Essen Hausaufgaben, Lärm, Beschwerden, ein Glas fällt um, Geschrei, Streit - endlich gehen sie spielen. Ich flüchte zum Blau.

 

Doch was ist das? Flecken, schmierige Fingerabdrücke, sogar Schokoladenpudding, der heute Nachtisch war, beflecken das Blau. Heiß steigt Ärger in mir hoch, während meine Hände ihr Ritual verrichten. Es rumort in meinem Magen. Wie das hier riecht! Einer der Jungen hat eindeutig Verdauungsprobleme.

Minuten später haben meine Hände ihr Werk getan. Das Blau erstrahlt in seinem Glanz, auch der Zitronenduft schwängert die Luft. Alles ist wieder gut.

 

Alles ist wieder gut? - Die Ruhe will sich nicht einstellen, vergeblich zeichnet mein Auge das Blau in Blau nach. Wut steigt in mir hoch. Brodelnd kocht mein Blut, die Schläfen glühen. Rot verschleiert meinen Blick. Blau wird zu lila. Ich reiße an Lila. Endlich löst es sich.

 

Blau - Rot - Lila verschwinden in schwarz. Kühl streicht der Wind um meine Schläfen. Mit einem Plumps schließt sich die Mülltonne.

 

Im Baumarkt finde ich den fallenden Tropfen als Kunstdruck. Jetzt habe ich mein Blau in jedem Zimmer - aber nie wieder in der Gästetoilette. Dort ersetzt jetzt eine einfache weiße Klobrille das Blau - ein Hauch Zitrone liegt in der Luft.