Hildegard

Als wir in unser Reihenhaus einzogen, war Hildegard die Erste, die uns begrüßte. Mit selbst gebackenem Kastenbrot und Salz stand sie lachend inmitten von Umzugskartons: „Herzlich willkommen! Hoffentlich bleibt ihr länger. Die Vorbesitzer haben sich scheiden lassen.“ Heiter ließ sie sich im Chaos nieder, schwatze drauf los, während rundum massenhaft Leute wuselten.

 

Morgens sah ich sie, Wind und Wetter missachtend, schwer bepackt mit dem Fahrrad wegfahren. Das rote Auto stand unbenutzt vor dem Haus. Wann immer wir uns begegneten, erzählte sie von der Krabbelgruppe, die sie leitete, vom Kirchenchor, vom Kegelclub. In aller Herrgottsfrühe lief nebenan krachend die Getreidemühle. „Selbstgebackenes Brot ist viel gesünder, da weiß man, was drin ist.“ Ein leises Kichern. „Wenn Du willst, backe ich für euch auch mit“, bot Hildegard an. Im Lauf des Tages kamen ihre Freunde, das frische Brot abholen. So duftete es vor dem Haus nach Holzfeuer und leckerem Gebäck.

 

Vor einigen Jahren war überraschend ihr Mann gestorben, Herzinfarkt mit vierzig. Heiter berichtete sie: „Ach, der Wilhelm war sowieso selten zuhause. Die Mädchen kannten ihn ja kaum.“ Feixend setzte sie hinzu: „Zum Glück hatte er gerade geerbt, so komme ich gut über die Runden.“

 

Blauregen überwucherte Ihre Pergola hinter dem Haus, täglich kehrte Hildegard die Terrasse, ohne ihren Humor zu verlieren. Darunter herrschte eine angenehme Kühle. Im Sommer wurden wir förmlich von den Samen abgeschossen, es knackte und prasselte um uns herum.

 

Irgendwann verkündete Hildegard freudestrahlend, dass sie neuerdings einen Schrebergarten habe. Auf dem eigenen Grundstück wäre zu wenig Platz. Biologisch angebautes Gemüse, Kartoffeln, Salat und Obst bereicherten seither unsere Mahlzeiten. Den Blauregen ersetzte sie durch üppige Weinreben, im Spätsommer bereitete sie Traubensaft und Gelee.

 

Mir drehte sich zuweilen der Kopf, wenn ich sie unermüdlich wirbeln sah. Ihr Garten blühte, drei wohlerzogene, höfliche Töchter und alles strahlte Sauberkeit aus. Sogar die Mülltonnen spiegelten das Licht und dufteten dezent nach Essigreiniger.

 

Vergnügt hackte sie im Vorgarten Holz, als ich vom Einkaufen kam. Ihr selbstgestrickter Pullover passte farblich zur handgenähten Hose aus ungebleichtem Leinen. Geschickt stapelte Hildegard die Scheite im Unterstand neben der Haustür: „Hast du schon gehört? Die Marion hat beim Frühstück einen Herzinfarkt gehabt! Mit gerade mal 50 Jahren. Jetzt bricht da bestimmt völlig das Chaos aus, sie hatte ihren Haushalt doch noch nie im Griff!“ Hildegard gluckste ihr kleines Gelächter.

 

In unserem Garten wuchsen kleine weiße Blumen, stark duftend und wunderschön. Als mein Jüngster zu krabbeln begann, wies mich Hildegard darauf hin, dass es sich um hochgiftige Maiglöckchen handelte. Belustigt meinte sie: „Du willst ja sicher nicht, dass dem Kurzen was passiert.“

 

„Kennst du die Birgit? Die ist gestern zusammengebrochen! Aber das musste ja schiefgehen, seit Jahren betrügt sie ihren Mann, “ spöttisch hielt mich Hildegard über die kleineren und größeren Katastrophen auf dem Laufenden.

Erstaunlich, wie viele Leute einen Herzinfarkt erlitten.

„Was macht denn dein Großer? Hat er endlich eine Lehrstelle? Du solltest nicht dulden, dass er jedes Wochenende feiern geht!“ Seither brachte sie häufiger mal freundlich Kritik an: Das Unkraut in meinem Vorgarten, die Streitereien der Kinder, meine Benutzung des Autos.

 

Gestern drückte Hildegard mir eines ihrer selbstgebackenen Brote in die Hand: „Hier, das ist übrig geblieben. Guten Appetit!“

 

Gerade stehe ich in der Küche, um eine Scheibe davon zu belegen, mit Schinken – wenn das Hildegard wüsste! Durch das offene Fenster weht ein Hauch von Jasmin herein und vermischt sich mit dem kernigen Geruch der Schnitte. Die Getreidemühle spielt ihr Lied.

 

Nanu? Massenhaft Streifenwagen kommen, dunkel gekleidete Männer verteilen sich auf der Straße. Begleitet von einer Frau klingeln zwei davon nebenan.

 

Genüsslich kauend, verfolge ich, was geschieht. Plötzlich durchzuckt mich ein heftiger Schmerz. Mein Herz krampft sich zusammen. Vergeblich greifen meine Hände nach oben, ich kämpfe um Luft. Ein eiserner Ring liegt um meine Brust. Während ich zu Boden stürze, höre ich von draußen: „Das war für lange Zeit das letzte Brot…“