Moin

Ich weiß nicht, wieso er schmuddelig wirkte. Er trug einen sauberen grünen Strickpullover, auf dessen linken Ärmel ein Signet eingestickt war, das ich nicht kannte. Seine rechte Hand war bandagiert. Auf dem Tisch vor ihm lag ein teures Handy.

Vielleicht war es der Dreitagebart, der eher nach fünf Tagen aussah; das Haar, leicht fettig glänzend oder die schmierige Brille? Seinen Geruch konnte ich nicht beurteilen, dafür war ich zu weit entfernt. Das sollte sich ändern.

 

Für ein Familientreffen war ich in den hohen Norden gereist. Ein allseits geliebter Onkel führte die Familie zusammen. Die Beerdigung war Anfang des Jahres gewesen. Der Onkel starb in seinem Bett. Wochen später merkten Nachbarn, dass sein Briefkasten überquoll. Lange nicht gesehen, den X.

 

Meine Frau gehört zur Familie. Bei der Bestattung kam der Wunsch auf, sich zu einem schönen Anlass zu treffen. Also ohne Abschied. Nur Treffen. Behutsam wurden Bande zwischen Familienmitgliedern gesponnen, die seit Jahrzehnten kein Wort miteinander gewechselt hatten. Erbstreitigkeiten. Der Herbst war anvisiert. Das kam mir entgegen, da ich zu dieser Zeit Kontakt zu einem Informanten in Norddeutschland aufnehmen sollte. Ich bot an, das Treffen zu organisieren.

 

Das Treffen weckte lang verborgene Sympathien, man verabredete sich. Abendessen mit einem Teil der Familie in einem Restaurant, das mit sechzehn Gästen fast überfordert war. Es gab vielleicht fünfundzwanzig Plätze. Gebucht hatte ich zwei für meine Frau und mich. Der Wirt war eine gemütliche Erscheinung, der sich von dem unangekündigten Überfall nicht aus der Ruhe bringen ließ.

 Vor dem Eingang war ein überdachter Bereich mit Stehtischen und Aschenbechern. Günstig, da die Sonne vom Himmel tropfte. Dort stand ich, als die angeheiratete Familie ihren Nachtisch genoss und ich meine Zigarette.

 

Ein grüner Strickpullover schob sich in mein Blickfeld. „Moin, schönes Wedder heute!“

Mein Stichwort! „Jau, schönes Wedder heute!“

Ungewaschene Körper haben einen eigenen Geruch. Dumpf, erdig, widerlich.

„Fridolin ist auf dem Weg.“ Mein Stichwort habe ich weitergegeben.

Er dehnt die Schultern. Schüttelt den Kopf. „Fridolin? Der ist in Ettal.“

Nicht die Antwort, die ich erwarte. Bayern lag nicht auf meiner Route. „Was weißt Du über die Fluchtrouten?“ Jetzt hatte ich alle Stichworte gegeben.

„Was willstn Mann, die Grenze existiert doch nicht mehr. Hier oben bleiben die Wenigsten. Tote Tante ist nicht jedermanns Sache!“

Tote Tante? War das eine Anspielung? Wieviel wusste er über mich? „Hat Fridolin eine Botschaft hinterlassen?“

Stirnrunzeln legte sein Gesicht in Falten. Er klopfte mit dem linken Zeigefinger an seine Stirn, als wollte er einen Gedanken hervorlocken. Seine Lippen arbeiteten, als verdauten sie einen ungesagten Satz. Sein Gesicht entspannte sich, er richtete sich auf: „Fridolin mag keine Tote Tante, das hadder gesagt.“ Sichtlich erleichtert sank er wieder in sich zusammen.

War das eine Warnung? War ich aufgeflogen?

„Hasde mal ne Kippe?“ Seine Augen lauerten. Mit gesenktem Kopf nagelte er mich mit seinem Blick fest.

Meine Hände fuhren zu meinen Taschen, tasteten, fanden. „Klar! Hier, nimm!“ Ich drückte ihm meine Schachtel Zigaretten in die Hand.

„Feuer?“

„Ja.“

Mein Feuerzeug wechselte den Besitzer. Was sag ich nur meiner Frau? Die Situation hier war brenzlig. Jeder Regentropfen flüsterte: „Gefahr!“

Mein Gesprächspartner war wie ein Geist verschwunden. Ich blickte die Straße hinauf und hinunter, keine Spur von ihm. Er war wirklich gut.

 

 

„Na, was hat den der alte Peter von Ihnen gewollt? Der hatte sein Quantum heute Mittag schon intus!“ Bedächtig zündete der Wirt sich eine Zigarette an. „Schönes Wedder heute!“