Zufälliges Treffen

Als der Chef eine Pause machte, sagte Hanne: „Ich muss los.“ Die monatliche Teambesprechung dümpelte und sie hatte längst Schluss.

„Wenn es wichtiger ist, dann gehen Sie.“ Der Chef war ungehalten.

 

„Maurice, bist du fertig? Der Schulbus kommt.“

Was für ne Kacke! Letztes Jahr brauchte ich keinen Schulbus! Da hatte ich Mama, Papa, ein tolles Zimmer, Freunde.

Und jetzt?

Papa ist weg, die Wohnung winzig, die neue Schule kacke. Und Freunde finde ich hier bestimmt nicht.

Ich ging.

 

Hanne war zu spät. Schmollend stieg Max ein.

„Wie war es in der Schule? Alles ok?“, fragte sie.

„Mmmh.“

Genervt fuhr sie nach Hause. Sie schloss die Haustür auf und sagte: „Während ich mit Oma beim Arzt bin, lernst du Vokabeln. Wenn ich zurück bin, höre ich dich ab.“

„Mmmh.“

 

An der Bushalte hingen Junkies ab. Schon war ich von drei miesen Gestalten umringt.

„Drück ma Kohle ab, Alda!“, forderte einer, während die anderen mir auf die Pelle rückten.

Ich antwortete: „Hab selbst nix, Alda.“ Kam nicht gut, plötzlich blitzte ein Messer in der Hand des Typen. Scheiße.

 

„Hoffentlich schaffen wir den Termin beim Arzt. Ich brauche dringend meine Medikamente. Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll, wenn wir zu spät sind. Dann werde ich wohl ohne auskommen müssen, dabei geht es mir so schlecht. Aber du hast ja nie Zeit - “

 

„Lass rüberwachsen, Spacko!“

Zögernd steckte ich die Hand in meine Hosentasche, da flog der Typ drei Meter zur Seite und ich war umringt von mindestens hundert finster blickenden Türken - naja, eher fünf.

Ich schwankte zwischen Erleichterung und Entsetzen. Ausgerechnet Muhammad aus meiner Klasse rettete mich mit seinen Freunden vor den Junkies. Die zogen angesichts der Überzahl schimpfend weiter.

„Danke, Muhammad.“

„Ey, Kleiner.“ Eine Hand landete auf meiner Schulter.

Ich stolperte nach vorn.

„Wir Versager aus der 8b müssen zusammenhalten. Nicht der Rede wert.“

 

Hanne ließ die Tirade ihrer Mutter an sich abgleiten. Sie waren pünktlich gewesen.

„Kommst du mit rein? Wir könnten einen Kaffee trinken?“

„Heute geht es nicht, Mutti. Tut mir leid! Beim nächsten Mal, ok?“

„Für deine Mutter hast du nie Zeit. Dabei würde ich mich so freuen, wenn du mal mit mir Kaffee trinken würdest. Aber ich bin ja nur lästig. Fahr ruhig. Dein Leben ist ja viel wichtiger als ich.“

Hanne schossen Tränen in die Augen. In Ihrem Kopf wechselten Bilder von Ausflügen mit ihrer Mutter, Frühstücke, Musicals, Grillabende, Feiern. Mutter immer Mittelpunkt.

Hannes Herz krampfte sich zusammen. Seit Vati tot war, wurde es immer schwerer, Muttis Ansprüchen zu genügen.

 

In der Pause kam Muhammad zu mir. Er ist gar nicht so beschränkt, wie ich gedacht habe. Wir trafen uns oft nach der Schule.

Dann lud er mich zum Jugendtreff ein. Wir redeten über alles Mögliche. Wenn ich etwas sagte, wurde darüber diskutiert. Endlich fühlte ich mich ernstgenommen.

Muhammad gab mir den Link zu einem Forum, in dem genau unsere Themen diskutiert wurden.

„Melde dich nicht als Maurice an, dann bist du gleich unten durch. Da sind eigentlich nur Moslems. Nimm Murah*, dann bist du akzeptiert.“

 

Sie verstaute die Einkäufe und fing an zu kochen. Zwischendurch hörte sie Max Vokabeln ab. Sie wählte erneut die Nummer ihrer Mutter.

„Ich bin dir wohl nicht wichtig genug, dass du mir direkt Bescheid gibst. Wenn dir was passiert wäre, wie würde ich das denn erfahren? Ich muss ja froh sein, wenn ich es in der Zeitung lese.“

 

Das Forum war der Hammer. Obwohl außer mir alle Moslems waren, hatten sie einen wirklich klaren Blick und es wurden auch selbstkritisch Probleme thematisiert, die von Muslimen verursacht waren.

Yussuf hatte eine interne Gruppe im Jugendtreff, aber er meinte, da dürfen nur Bekenner des wahren Glaubens teilnehmen.

Nachdem ich Muhammad gefragt hatte, was das bedeutet, überlegte ich nicht lange und fragte, wie ich dazu gehören könne. Eine Voraussetzung war, dass ich meinen Vornamen ändere. Murah war akzeptabel, also ließ ich meinen Vornamen ändern. Meine Mutter gab nach, sie hatte keine Nerven mehr für einen Zank mit mir, wo sie ständig Ärger mit Papa und den Scheidungsanwälten hatte.

Muhammed sagte mir, welche Fragen ich beim Mullah beantworten muss. Alles kein Ding und nun gehöre ich richtig dazu. Ich bin jetzt Murah!

 

Hanne schluckt. „Mutti, ich bin gut angekommen. Bei dir war die ganze Zeit besetzt. Ich habe es schon dreimal versucht.“

„Ach, da hat Susi angerufen. Die findet nie ein Ende. Als hätte ich alle Zeit der Welt! Bist du am Kochen?“

„Ja, ich muss jetzt die Kartoffeln abgießen. Unser Essen ist fertig.“

„Warum rufst du überhaupt an, wenn du keine Zeit zum Reden hast? Ich bin nur deine alte, lästige Mutter! Ob ich einsam bin und niemand mit mir redet, ist ja völlig egal.“

 

Beim nächsten Mal ging es in Yussufs Gruppe darum, dass Allah Genusssucht verboten hat. Jedes Einkaufszentrum widerspricht diesen Geboten. Wir diskutierten hart. Dann warf Tajjib die Frage auf, ob wir etwas dagegen unternehmen können.

„Man müsste alle Einkaufszentren hochjagen, damit sich etwas ändert“, sagte ich, um die Diskussion zu beleben. Zu meinem Erstaunen fanden viele die Idee hervorragend. Wir vereinbarten, im Superkauf-Einkaufszentrum eine Bombe hochgehen zu lassen. Da es meine Idee war, sollte ich es tun. Das machte mich stolz. Am nächsten Abend bekam ich eine Aktentasche. Muhammad erklärte mir genau, wie ich die Bombe scharf machen konnte, sobald sie mitten in Einkaufszentrum platziert war.

„Was ist, wenn ich nicht rechtzeitig wegkomme, bevor die Bombe explodiert?“

Muhammad beschwichtigte: „Das macht nichts. Du bist dann ein Löwe Allahs - Asadullah. Wenn du dabei stirbst, kommst du sofort nach Dschanna, dort warten 72 Huri auf dich.“

Mit der Tasche am Lenker machte ich mich auf den Weg. Ich sah mein Ziel schon vor mir. Die Ampel war rot.

 

Sie waren gerade mit dem Essen fertig. Es war Zeit für das Vorstandstreffen vom Fußballverein. Keine Zeit, aufzuräumen. Hanne fuhr los. Wenig später sah sie links Superkauf. Die Ampel war grün.

 

Aber mich hält nichts auf. Ich fuhr weiter.

 

Im letzten Moment sah sie einen Fahrradfahrer von rechts.

Zu spät. Das Geräusch würde sie lange in ihren Träumen begleiten. Der Anblick eines Körpers, der über ihre Motorhaube wirbelt, ebenfalls.

 

Plötzlich drehte sich die Welt. Ich höre, sehe, spüre nichts, liege am Boden. Blaulicht flackerte überall.

 

„Frau Peisker, bitte schildern Sie mir noch einmal, was aus Ihrer Sicht passiert ist.“

„Junge, hörst du mich? Alles ist gut. Wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus.“

Wo kam der her? Sie sieht ihn über die Motorhaube fliegen.

Krankenhaus? Wie jetzt? Wo ist das Paradies?

 

 

*Murah: (indonesisch) billig