Sonntagskind

Das Geschenkpapier flatterte zu Boden. 
Maries Augen leuchteten. „Das ist so toll! Danke! Das beste Geschenk überhaupt!“ Sie umarmte Tante Silke und küsste sie. 
Noch wusste sie nicht, dass das Superman-T-Shirt ihr Leben verändern würde. 

Jetzt wurde erst einmal gefeiert. Marie hatte gestern das magische Alter von zehn Jahren erreicht und damit das Alter der Einstelligkeit verlassen. Das kommende Jahr würde grandios werden: Sie würde endlich die Grundschule verlassen und als Große auf die weiterführende Schule gehen. Ein bisschen taten ihr die kleinen Schwestern schon leid, dass sie noch einstellig waren. Aber die Freude über ihre eigene Größe überwog. Die Feier war wundervoll, alle hatten viel Spaß. 

Der nächste Tag war ein Sonntag. Marie erwachte früh, es war fast noch dunkel. Sie liebte es, als erste aufzustehen. Es fühlte sich an, als gehöre ihr die ganze Welt. Alles war still, nur die Vögel sangen im Garten. Sonntage waren für Marie besondere Tage. Schließlich war sie ein Sonntagskind. Sie zog das neue Superman-T-Shirt an und lief in den Garten. Tau glitzerte auf den Grashalmen. Die Welt roch neu, frisch. Sie lauschte den Singvögeln, als plötzlich ein Gedanke immer lauter wurde: „Geh in den Schuppen!“ Das S auf dem T-Shirt wurde warm und zeichnete eine Spur auf ihrer Haut.

Knarrend öffnete sich die Schuppentür. Wie in fast allen Schuppen fand sich hier ein Sammelsurium verschiedenster Dinge, die zum Teil genutzt wurden, wie der Bollerwagen, oder gerade nicht gebraucht wurden, aber zu schade waren, um weggeworfen zu werden. Zu den letzteren gehörte ein riesiger Spiegel mit vergoldetem Holzrahmen, der Maries Oma gehört hatte. Diese war vor drei Monaten gestorben, aber Marie hatte schon vorher gefühlt, dass Oma bald gehen würde. Ein komisches Tier mit acht Beinen und zwei kneifenden Armen hatte Oma umklammert und das Leben langsam aus ihr herausgedrückt. Marie hatte es gesehen.

„Geh zum Spiegel!“, befahl es in ihrem Kopf und das S wurde wärmer, fast schon heiß. Marie hob die Decke an, die den Spiegel schützte. Er zeigte ein riesiges Superman-S, das langsam verblasste. An seiner Stelle erschien eine Tür, die sich öffnete. Marie trat hindurch.

Es roch nach Salz. Ihre Füße versanken in feinem Sand. Zwei Sonnen, eine gelb und eine rot, standen am Himmel. Ein Wesen, wie das, welches ihrer Oma das Leben genommen hatte, stand vor Marie und betrachtete sie aus Augen, die seltsam leblos wirkten. 
„Du kommst zu mir. Wie seltsam. Normalerweise komme ich zu euch! Deine Mutter werde ich als nächstes besuchen.“ 
Marie wurde kalt, obwohl die Sonnen Wärme abstrahlten und der Sand fast ihre Füße verbrannte. „Das lasse ich nicht zu!“ In ihr brodelte Wut und stieg zu den Augen auf. Das Superman-S brannte auf ihrer Haut. Sie fixierte das Wesen und zu ihrer Verwunderung schoss ein Lichtstrahl aus ihren Augen. 
Das Wesen quiekte und rannte ins Wasser.
Ohne zu zögern lief Marie hinterher. Das S pulsierte und schickte regelmäßig Luft in ihre Lungen. 
Unter Wasser war eine Stadt. Verschiedenste Kreaturen belebten sie. Da gab es Geschöpfe, denen ein Stab aus den Kopf wuchs, an dessen Ende es leuchtete. Die standen an jeder Ecke und bewegten sich nicht. Andere hatten Stacheln, aber nicht so dicht wie bei einem Igel. Als Marie an einem Busch mit wedelnden Armen vorbei kam, hörte sie eine Stimme. 
„Sei vorsichtig! Cancer ist unberechenbar. Ein Kampf gegen ihn verändert dein ganzes Leben! Du wirst nie wieder unbeschwert sein. Er lässt seine Opfer nicht los!“ 
„Dann muss ich ihn besiegen, bevor er sein Opfer gefangen hat!“ Marie spürte eine wunderbare Kraft in sich. Sie folgte Cancer durch das Tor eines Palastes.

Das Wesen rannte eine Treppe hinauf und durch eine Tür. Als Marie ihm folgte, fand sie sich in einem Raum wieder, der wie eine riesige Bibliothek aussah. Cancer hatte sich ihr zugewandt, die scherenartigen Klauen erhoben und murmelte unverständliche Worte. Plötzlich erhoben sich unzählige Blätter Papier und wirbelten um Marie herum. 
„Überweisung zum CT – Verdacht auf Lungenkarzinom“ – „Laboranforderung: Großes Blutbild“ – „Ultraschall der inneren Organe“ – „Ganzkörper-MRT zum Ausschluss von Metastasen“ – „Knochenmarkspunktion“ – „Liquorentnahme“ – „Chemoprotokoll XY“.


Obwohl Marie keines der Worte kannte, fühlte sie, dass diese Blätter für ihre Mutter Schlimmes bedeuten würden. Das Papier kreiste Marie ein, nahm ihr die Luft. Sie wedelte mit den Armen um die Blätter zu verscheuchen. Umsonst! Hilflosigkeit stieg in ihr hoch. Sie nahm eines der Blätter und zerriss es. Sofort reihten sich die Fetzen in den tödlichen Tanz ein. Der Kampf war nicht zu gewinnen. Je mehr Blätter sie zerriss, umso mehr stürmten auf sie ein. Die Blätter drängten Marie zu Boden. Sie schlug um sich, kämpfte, aber es wurde immer schlimmer.

 

Marie wollte nicht mehr. Es war zu viel. Sie versank in einem Schneesturm aus Papier. Es legte sich auf sie, ihr Körper lag reglos auf dem Boden, gefesselt von Diagnosen. Als sich ein Blatt über ihr Gesicht legte, sie nichts mehr sehen und nicht mehr atmen konnte, spürte sie Wärme auf ihrem Bauch. Das S wurde heißer, es weckte ihren Willen zu leben.

Wut stieg in ihr auf, sie fühlte die Kräfte des S und verbrannte alle diese Papiere mit dem Hitzeblick, der vorhin das Wesen verletzt hatte. Ascheflocken rieselten harmlos auf sie hinab. Ein Geruch nach Krankenhaus zog vorbei, Marie stand auf. Sie hatte gesiegt.

 

Aber da war noch Cancer selbst, die Ursache. Sie rannte zu ihm. 

 

„Was willst Du? Ich komme ja nicht deinetwegen.“ Es hob abwehrend die Scheren. 
„Du lässt meine Mutti in Ruhe!“ Mit ihrem Superblick grillte sie das Wesen, bis seine Schale brach und es hilflos auf dem Rücken lag. „Jetzt brauchst du erst mal ein Krankenhaus!“ 
Marie war zufrieden. „Und wenn du wieder Lust auf Leute hast, denk dran, ich finde dich!“ 
Marie drehte sich um und sah durch den Spiegel den Schuppen. Sie ging hinein, wischte sich die Asche aus dem Gesicht und lief ins Haus. Als sie ihren Kakao trank, kam Mutti in die Küche. 

„Guten Morgen, Marie. Hast du heute schon die Welt gerettet?“ 
„Nee. Aber deinen Krebs habe ich eingeschüchtert. Der kommt jetzt nicht.“