Abschied

Nun öffnet sich das Tor und ich stehe davor, bereit hindurch zu gehen. Mein Blick fällt auf Euch, die sich hier getroffen haben, um meinem Abschied beizuwohnen. Ich formuliere bewusst so distanziert, nicht jeder, der hier steht, ist wirklich hier. Ich bin viel präsenter als viele von Euch.

 

Peter, wie immer mitten im Geschäft, das Telefon am Ohr: „Wenn Sie mir noch zwei Wochen Zeit geben - “

„Peter, ich bin schwanger!“

„Oh, schön, schön - “

Dann klingelte das Telefon und ich war unwichtig.

Deine Gleichgültigkeit werde ich nicht vermissen. Endlich bin ich von Dir befreit. Ich bedauere, dass ich mich nicht auf Martin eingelassen und Dich verlassen habe. Meine Feigheit und Sehnsucht nach Sicherheit waren stärker.

 

Jule, du weinst - doch Du brauchst mich nicht mehr. Du bist eine wunderbare, starke Frau geworden, ich habe Dir alles gegeben, was in meiner Macht stand. Dein Leben liegt vor Dir, Du wirst es meistern.

Wie süß du geduftet hast, als die Hebamme Dich auf meinen Bauch legte. Deine kleinen Hände, zu Fäusten geballt, drückten sich in die überschießende Fülle meiner Brüste, Deine feuchten Haare, riesige Augen von unirdischem Dunkelblau. Mein Herz gehört seitdem unwiderruflich Dir.

Du hast mich oft auf die Probe gestellt. Wochenlang jede Nacht schreien. Ich habe Dich herumgetragen, bis wir beide erschöpft waren. Meine Liebe zu Dir wuchs.

In der Schule wurde ich oft zu den Lehrern zitiert.

„Jule stört den Unterricht.“

„Jule schlägt und tritt.“

„Jule fügt sich nicht ein.“

Dein geliebter Opa war gestorben. Das hat Dich aus der Bahn geworfen, aber wir haben gemeinsam einen Weg gefunden, weiter zu leben. Auch wenn mir oft leid tat, dass Deine ohnehin knappe Freizeit durch die Therapie weiter beschnitten wurde.

Auch heute, jetzt, wirst Du einen Weg finden, Dein Leben zu entwickeln. Ich bin immer bei Dir. Auch wenn Du mich nicht siehst, spürst Du meine Nähe. Ich freue mich darauf, Dein Leben weiter zu begleiten.

 

Da sind sie alle, Vertreter der Schulen, des Sportvereins, des Schützenvereins, des Hospizes. Und doch ist keiner von Ihnen wirklich hier. Jahrelang habe ich ehrenamtlich viel Zeit, Kuchen, Geld eingebracht und jetzt sehe ich in Ihren Köpfen: „Hoffentlich dauert es nicht so lange. Warum muss ausgerechnet ich hier stehen? Viel lieber würde ich - “

War ich auch so genervt auf Beisetzungen? Eigentlich habe ich mich lieber vor solchen Muss-Terminen gedrückt. Ein trauriges „Entschuldigt bitte!“ an alle, die dann an meiner Stelle gehen mussten.

 

Auch einige Nachbarn sind da. Nett von Euch, ich würde dasselbe für Euch tun. Nur die Familie, die ich seit Jahren mindestens zweimal wöchentlich mit allem Möglichen versorgt habe, die glänzt durch Abwesenheit.

„Hast Du Mehl?“ - „Hast Du Zucker?“ - „Hast Du Spüli?“ - „Hast Du Luftpumpe?“

Nichts, was ihr nicht ausgeliehen habt, und nichts, das ich zurückbekam. Dennoch habe ich Euch nie abgewiesen, selbst mit Peter hatte ich Streit deswegen. Meine Hand war immer offen. Schade, dass ich jetzt nicht wichtig für Euch bin. Ich wünsche Euch eine andere Nachbarin, deren Vorratskammer auch freigebig ist und dass Eure Kinder zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen können.

 

Maria und Claudia, meine Schwestern. Ihr vergießt bittere Tränen, auch mein Herz weint. Wie sehr ich Euch verletzt habe, als ich Euch jahrelang aus meinem Leben ausschloss, wurde mir erst spät bewusst. Umso schmerzlicher, dass erst unser sterbender Vater mir die Augen öffnete.

In dieser Zeit erlebten wir unsere innigste Verbindung. Drei Tage und Nächte waren wir miteinander bei ihm. Wir lachten, scherzten, erinnerten uns gegenseitig an gemeinsam Erlebtes und über uns schwebte der Tod, der uns den wichtigsten Menschen nehmen wollte. Wir lernten in dieser Zeit, dass man gemeinsam auch dem Tod ins Gesicht spucken kann.

Wischt Euch die Tränen aus dem Gesicht und spuckt! Auch ohne mich seid Ihr ein starkes Team!

 

Auf der anderen Seite des Tors sind viele, die mich erwarten. Sie alle sind ganz hier, empfangen mich voller Freude. Meine Eltern und Großeltern, vorausgegangene Familienmitglieder.

Da ist die kleine Lisa. Mein Knochenmark schenkte ihr ein Jahr Leben auf dieser Welt. Wie traurig ich war, als sie es dann doch nicht schaffte. Aber jetzt begrüßt sie mich begeistert. Sie konnte in diesem Jahr viele schöne Erinnerungen sammeln.

Viele empfangen mich, an die ich mich kaum erinnere. Der Bettler, dem ich fünf Mark gab, die alten Menschen, denen ich ein Lächeln und ein Ohr in der Supermarktschlange schenkte, Menschen, denen ich vorurteilslos begegnete.

 

Das Tor steht offen. Wenig hält mich hier. Die mich vermissen werden, kommen auch ohne mich klar. Alles ist getan und auf der anderen Seite werde ich erwartet. Ich wende mich dem Tor zu und mache den einen Schritt. Ich lasse die Welt hinter mir.

 

Es ist gut.